Tió de Nadal

Aus InkluPedia
Ein Tió de Nadal aus Katalonien
Ein Tió de Nadal wird mit Obst und Gemüse gefüttert und getränkt
Kinder bringen Tió de Nadal zum Herausspucken von Geschenken (um 1880, Zeichnung aus dem Magazin „La Llumanera de Nova York“)
Weibliche und männliche Tions (Plural zu Tió) - zu adoptieren oder zu befreien (in jedem Fall zu kaufen)

Der Tió de Nadal [tiˈo ðə nəˈðal][1] (auch einfach „tió“, Plural „tions“ oder „tronc(a) de Nadal“, aragonesisch „tronca“, „toza“ oder „tízón de Nadal / Navidat“ und okzitanisch „cachafuòc“ oder „soc de Nadal“) ist eines der Elemente der katalanischen und aragonesischen Mythologie und eine tief im spanischen Katalonien und Aragon sowie in Andorra und Okzitanien (Frankreich) verwurzelte Weihnachtstradition. Auf Mallorca ist diese früher als „Nadaler“ bekannte Tradition nahezu verloren gegangen.

Die aktuelle Tradition

Trotz der vielen lokalen Variationen besteht die Tradition darin, einige Tage vor Weihnachten einen Baumstumpf oder dicken Ast zu besorgen und diesen mit einem Gesicht und einer roten katalanischen Bauernmütze („la barretina“) als Tió de Nadal herzurichten. Normalerweise wird am 8. Dezember, dem Tag der Unbefleckten Empfängnis Marias, dieser Baumstumpf mit einer Decke bedeckt und in eine Ecke des Hauses gelegt, damit El Tió sich nicht verkühlt. Er wird täglich mit Obst, Äpfeln, Mandarinen und Äpfeln gefüttert, damit er zur Weihnachtsbescherung Süßigkeiten und vor allem Geschenke auswerfen (im etwas derben zum Brauch gehörigen Kinderlied „scheißen“ oder familiär „etwas herausrücken“) kann. In manchen Häusern besteht El Tió einfach aus einem Stück Holz, einem oder mehreren Stühlen, einem Stück Kork, einer Holzschachtel oder einem geflochtenen Korb jeglicher Größe, je nach der für die herauszugebenden Geschenke angemessenen Größe.

Für diese Tradition gibt es auch den Namen Cagatió [ˌkaɣətiˈo],[2] der sich direkt auf das Fest der Bescherung bezieht, bei dem El Tió, Geschenke herausrücken oder eben derber „scheißen“ soll (katalanisch: „cagar“, deutsch: „scheißen“, familiär auch etwas „herausspucken“, etwas „rausrücken“ wiedergegeben werden). Hier wird das für deutschsprachige Leser etwas derb wirkende oben bereits erwähnte Kinder- und Bescherungslied ausschnittsweise in katalanischer Sprache aufgegriffen. Es existieren zahlreiche Strophen und Varianten.

Caga Tió!
Ametlles, avellanes i torró.
No caguis arengades.
Que són massa salades.
Caga torrons que són més bons.
Si no cagues tió.
Et donaré un cop de bastó.


Spucke heraus Tio!
Mandeln, Nüsse und Torrons (Weihnachtsgebäck).
Und spucke keine Heringe.
Denn die sind zu salzig.
Spucke Torrons, die sind viel besser.
Wenn du nicht spuckst Tió.
Dann geben wir dir einen Stockschlag.


Die Kinder singen zur Bescherung dieses vielstrophige Lied, tanzen um Tió, drohen ihm dabei im Rhythmus der Musik mit kleinen Stöcken oder versetzen leichte Stockschläge auf die die Geschenke verbergende und Tió ummantelnde Decke. Nach Absingen des Liedes zieht der Familienvater die Decke weg und die kleinen und großen Kinder nehmen ihre Geschenke in Empfang.

Die Geschichte des Tió de Nadal

Nicht aus dem okzitanisch-katalanisch-aragonesisch Kulturgebiet stammende Bürger anderer Nationalitäten tuen sich mit dem Verständnis des Weihnachtsbrauchtums um El Tió de Nadal schwer. Auch kritische Katalanen sehen Brüche und Unebenheiten in diesem Brauchtum. Was sollen beispielsweise kleine Kinder empfinden, die in der Vorweihnachtszeit liebevoll El Tio warm halten und ihn abends mit Futter versorgen, um ihn schließlich am Heiligen Abend mit Stöcken dazu zu bewegen, Geschenke auszuspucken? Die Personaltrainerin Sophia Blasco i Castell macht darauf aufmerksam, dass zum Verständnis der genannten Unebenheiten und einer eventuell passenderen aktuellen Ausgestaltung der Ursprung und die geschichtliche Entwicklung dieser Tradition betrachtet werden muss.[3]

El Tió repräsentiert eine ländliche, alte, vorchristliche Tradition, die ursprünglich eng mit der Natur, der Fruchtbarkeit und den Festen zur Wintersonnenwende verbunden war. Um die Wintersonnenwende herum wurde an der Feuerstelle uralter Bauernhäuser ein besonders großes Stück Holz entzündet. Dieses Holz spendete in der langen Winternacht die benötigte Wärme und das benötigte Licht. Das im ursprünglichen Brauchtum nachgewiesene „Schlagen“, konkret das Schlagen von Wärme aus dem großen brennenden Scheit, diente dem Wiederererwecken der in Kälte erstarrten Natur. Es diente als Vorbote des Heraufziehens der wärmeren Jahreszeiten.[4]

Die emeritierte Anthropologin Josefina Roma i Riu der Universität Barcelona sieht das in Frage stehende Brauchtum insgesamt in einen Ahnenkult dieser bäuerlichen Bevölkerung eingebettet. Die Erwachsenen kommunizieren über das Medium des Rauches im Schornstein mit ihren Vorfahren. Gleichzeitig werden am Feuer Leckereien für die Kinder zubereitet. Generell werden in dieser Zeremonie gute Wünsche sowie Schutz (gegen Blitze, Ungeziefer und Krankheiten) und Fruchtbarkeit der Familie beschworen. Die aus dem Feuer zurückgebliebene Asche wurde anschließend auf den Feldern verstreut. Im diesem gesamten ursprünglichen Brauchtum manifestiert sich eine tiefe Verbundenheit aller Beteiligten mit ihrer Familie, den Vor- und Nachfahren, und mit der Natur.[4]

Dieser ursprüngliche Ahnenkult wurde im aufkommenden Christentum in ein Kinderfest umgeformt. Die älteste Person im Haus leitete die Zeremonie und segnete zunächst das große brennende Holzscheit mit Wein. Das brennende Holzscheit war ursprünglich in keiner Weise bemalt oder dekoriert. Vor der Bescherung mit dem Schlagen auf das brennende Holzscheit gingen die Kinder mit einem Erwachsenen in einen anderen Raum, um dort ein Vaterunser vor der Bescherung zu beten. Diese Bescherungstradition blieb eng an das bäuerliche, brennende Holzscheit und das Hausfeuer gebunden.[4]

Mit der aufkommenden Säkularisierung und der Modernisierung der Wohnstätten veränderte sich das Brauchtum deutlich. Zunächst tränkten Kinder die Stöcke, mit denen sie El Tió, das zuvor liebevoll behandelte Holzscheit, jetzt zur Herausgabe von Süßigkeiten und Geschenken zwangen. Genau an dieser Stelle sieht die oben bereits genannte Personaltrainerin Sophia Blasko Anpassungsbedarf der Tradition, in der solche Momente von Gewalt zurückgenommen werden müssen. Das Aufkommen moderner Wohnstätten entfernte die Tradition zudem von ihrem angestammten klassischen Ort, dem bäuerlichen Hausfeuer. In diesem Zuge wurde El Tió mit einem Gesicht und einer katalanischen Bauernmütze versehen oder schlichtweg vermenschlicht und schließlich auch als käufliche Ware teilweise verkitscht.[4]

Es gibt zunehmend mehr Menschen wie Sophia Blasko, die für eine Weiterentwicklung dieser uralten, wertvollen Traditionen in Richtung auf das Einssein mit der Natur und das Einssein mit den Mitmenschen eintreten, also für die Motivationen des vor- und auch des frühchristlichen Brauches.

Literatur

  • 2015: El tió de Nadal (Pop up fantàstics), Autor Equip Susaeta, Illustrator Javier Inaraja und Fco. Arredondo, 6 Seiten, Susaeta Ediciones, ISBN 978-8467734478 (Katalanisch)
  • 2016: El tió de Nadal (Base Tradicions, Band 4), Autor Care Santos, Illustrator Dani Cruz, 32 Seiten, Editorial Base, ISBN 978-8416587544 (Spanisch)
  • 2019: Feliz Navidad: Auf Spanisch durch die Weihnachtszeit , Herausgeberin Michaela Schwermann, 80 Seiten, Reclam, ISBN 978-3150196403 (Deutsch, Spanisch)
  • 2022: Com cuidar el tió i evitar que cagui abans d'hora, Autor Oscar Vendrell Corrons, Illustratorin Lucía Serrano Guerrero, 40 Seiten, Baula, ISBN 978-8447949045 (Spanisch)

Weblinks

Quellen

Einzelnachweise
  1. Siehe den entsprechenden Artikel in der katalanischsprachigen Wikipedia.
  2. Siehe entsprechende Einträge im katalanisch- und deutschsprachigen Wiktionary.
  3. Siehe hierzu: Sophia Blasco i Castell: El Tió de Nadal i la violència. In: jornal.cat (19. Dezember 2010).
  4. 4,0 4,1 4,2 4,3 Abschnitt nach: 3CAT: D’on ve la tradició de fer cagar el tió? (23. Dezember 2023).